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Falsche Theorie mit hartnäckigem Eigenleben
Der Hund gibt seinen Ball nicht mehr her. Er verteidigt sein Futter, sein Revier, sich selbst – er droht jedem, der sich nähert, mit gefletschten Zähnen. Oder er legt andere Verhaltensweisen an den Tag, die nicht gewünscht sind. Bellt zu viel, zerrt an der Leine, pinkelt ins Haus. Sehr oft gibt es Stimmen, die dann „fachkundig“ feststellen: So drückt sich die Dominanz bei Hunden aus. Frech tanzt er Herrchen oder Frauchen auf der Nase herum, tut was er will, solange ihm niemand seine Grenzen aufzeigt. Und wie sein Vorfahre, der Wolf, so heißt es, gilt auch unter Hunden nur ein Prinzip: Der Stärkste gibt den Ton an, der Rest muss unterwürfig folgen. Im schlimmsten Fall wird sogar dazu geraten, gleich von Welpenalter an zu etablieren, wer das „Alphatier“ ist.
Doch ist es wirklich notwendig oder überhaupt in irgendeiner Form hilfreich, in solchen Situationen mit Unterdrückung oder gar Gewalt zu reagieren? Heute weiß man: Keineswegs – trotzdem vertreten viele Hundebesitzer und auch manche Hundetrainer immer noch diese Meinung. Denn zum Thema Dominanz bei Hunden kursieren auch heute noch viele Mythen und veraltete Halbwahrheiten.
Hundeerziehung anno dazumal:
- Die Dominanztheorie hat sich aus wissenschaftlichen Beobachtungen über das soziale Verhalten von Hummeln, Hühnern und Wölfen (in Gefangenschaft) entwickelt.
- Viele Personen übertrugen diese Erkenntnisse auf die Beziehung zwischen Mensch und Hund: Es galt, dass der Mensch gegenüber dem nach oben strebenden Hund seine Position an der Spitze der Rangordnung immer wieder behaupten müsse.
- Dabei heiligte der Zweck oft die Mittel, denn Hunde mussten schließlich „kleingekriegt“ werden. Erst, wenn das Tier sich unterwirft, entstehe eine „natürliche“ Beziehung zwischen Hund und Mensch.
- Leider war auch Gewaltanwendung dabei nicht verpönt. Zum Teil wurde sogar zu Grausamkeiten geraten – z. B. Welpen mit den Nasen in ihre Hinterlassenschaften zu tauchen, um sie stubenrein zu machen.

Alles Alpha? Entstehung & Revidierung der Dominanztheorie
„Man muss Dominanz bei Hunden durchsetzen“ – so lautete früher oftmals die Pauschalerklärung beim Hundetraining. Diese geht auf die sogenannte Dominanztheorie zurück, die der US-amerikanische Verhaltensforscher Lucyan David Mech in den späteren 1960er Jahren postulierte. In seiner frühen Forschungsarbeit beobachtete er Wölfe in Gefangenschaft. Dabei lernte er, dass ein Rudel von einem Alpha-Paar, einem Alpha-Wolf und einer Alpha-Wölfin, angeführt wird. Diese etablierten ihren Status immer wieder durch Gesten der Dominanz gegenüber den anderen Rudelmitgliedern, die sich wiederum unterwerfen mussten. Die Theorie verbreitete sich wie ein Lauffeuer und wurde auch auf die Mensch-Hund-Beziehung angewandt – sehr zu Mechs Gram.
Falsche Herangehensweise – echte Folgen
Denn schon 1999 revidierte der Verhaltensforscher seine ursprüngliche Theorie, nachdem er Wölfe in freier Natur beobachten konnte. Diese zeigten ein vollkommen anderes Verhalten und andere Sozialdynamik als gefangene Tiere. Ihr Zusammenleben war mehr durch Kooperation und harmonisches Miteinander geprägt. So erkannte Mech, dass das aggressive Verhalten der Wölfe wahrscheinlich auf den Stress und die unnatürlichen Haltungsbedingungen der Gefangenschaft zurückzuführen war. Er zog seine Artikel über Dominanztheorie zurück und bat Verlage, sein Buch aus dem Sortiment zu nehmen, da die Inhalte nicht richtig seien. Doch die Dominanztheorie verkaufte sich zu gut – und hatte überdies bereits ein Eigenleben entwickelt.
Besonders einige Menschen aus dem Hundewesen verbreiteten die Theorie eifrig weiter, man müsse Hunde dominieren statt erziehen. Sie bildeten Generationen von Hundetrainern aus, schrieben eigene Bücher und Artikel, und die Dominanztheorie gelangte in die ganze Welt. Dabei funktioniere es überhaupt nicht, Beziehungen zwischen Mensch und Hund so linear wie etwa Hackordnungen unter Hühnern zu beschreiben, so Verhaltensforscher Mech. Auch sieht der Hund im Menschen mit Sicherheit keinen etwas komisch aussehenden Hund und damit Artgenossen. Was innerartlich gilt, ist nicht auf hoch komplexe soziale Gefüge unterschiedlicher Spezies und unsere spezielle Interaktionen mit Hunden zu übertragen!

Folgen der Dominanztheorie
Trotz der allgemeinen Abkehr von der Theorie halten sich auch heute noch hartnäckig vereinzelte Unwahrheiten und Grausamkeiten, über denen der Begriff „Dominanz“ schwebt:
- Der Mensch muss als Erster durch die Türe gehen.
- Der Mensch geht beim Gassigehen vorne.
- Nur der Mensch darf das Spiel beginnen und beenden, der Hund darf keine Kontrolle über Spielzeuge haben.
- Der Ranghöchste isst stets zuerst.
- Der Hund wird als Erziehungsmaßnahme stundenlang ignoriert, wenn er nicht „spurt“.
- Dominante „Anführer“ sprechen mit lauter Stimme zu Hunden, bewegen sich zackig, dürfen auch mit Grobheit auf Ungehorsam (oder meist eher Unverständnis) reagieren.
- Jeder „Ungehorsam“ ist eine Herausforderung der Rangordnung.
- Der Hund muss sich „unterwerfen“ – dazu darf man ihn zu Boden drücken, im Genick packen, auf den Rücken forcieren, hochheben etc.
Heute werden derartige sogenannte aversive Trainingsmethoden zu Recht als nicht tierschutzkonform entlarvt. Stattdessen ist moderne Hundeerziehung von Beziehungsarbeit und positiver Verstärkung geprägt. Denn Lob und Zusammenarbeit zeigt tatsächlich viel schneller und langfristiger Erfolg als Schimpf oder gar Gewalt.
Veraltete Ansichten schaden Beziehung
Selbst „Dominanzexperten“, die heutzutage noch immer an diesem Konzept festhalten, können sich nicht darauf einigen, welches Verhalten eigentlich als Dominanz bei Hunden gilt oder was einen dominanten Hund oder Mensch ausmacht. Fest steht nur, dass die Theorie, dass Hunde stets nach höherem Rang streben und die „Kompetenz“ des Rudelführers herausfordern, unserem Verhältnis zu den Vierbeinern stark zugesetzt hat. Die Auswirkungen sind auch weiterhin spürbar, wenn etwa dazu geraten wird, sich als Alphatier zu behaupten, um Rangordnungsprobleme zu klären. Da wurde und wird zu Alpharollen, Genickschütteln und absoluter Härte geraten, damit der Hund weiß, wo er hingehört: an die letzte Stelle im Rudel. Zum Glück verstehen die meisten Hundehalter instinktiv, dass bei diesem Grundgedanken etwas nicht stimmt.
Doch warum hält sich die Dominanztheorie so hartnäckig, wenn eigentlich nichts dabei ist? Ganz einfach: Weil Hunde, die unerwartet oder sogar regelmäßig Ungehorsam oder Aggressionen zeigen, dann fälschlicherweise als dominante Hunde interpretiert werden. Es scheint eine einfachere Lösung zu sagen, dass es sich nur um den Versuch handelt, dem Menschen den Rang streitig zu machen.
Unverständnis & Eskalation von Gewalt
Doch wenn Hunde sich anders als erwartet verhalten oder gerade Menschen gegenüber aggressives Verhalten an den Tag legen, steckt alles andere als Dominanz bei Hunden dahinter. Es gibt hundert verschiedene mögliche Gründe, warum ein Hund nicht auf seinen Menschen hört oder diesen ignoriert. Beispielsweise könnte man ihn unbewusst zu falschem Verhalten motiviert haben. Dies geschieht oft, wenn Hunde immer nur dann Aufmerksamkeit bekommen, wenn sie Ärger machen – selbst, wenn diese Aufmerksamkeit negativ ist (schimpfen, ablenken, trösten etc.). Oder das Training geht zu schnell voran, sodass der Hund mit Resignation oder Unverständnis reagiert. Dies ist oft der Fall, wenn ein Kommando daheim klappt, draußen beim Spazierengehen aber plötzlich nicht mehr. Wir Menschen vergessen dann oft, dass Hunde stark nach Kontext lernen – das bedeutet, dass das gleiche Kommando in anderen Situationen quasi erst langsam „neu“ beigebracht werden muss. Oder Hunde sind ganz einfach nicht futtermotiviert oder sogar schwerhörig oder krank. Besonders, wenn Hunde beim Spazierengehen einfach sitzenbleiben und plötzlich nicht mehr weitergehen wollen, können Schmerzen dahinterstecken und keineswegs einfach nur Sturheit.
Hinter Aggressionen stecken ebenfalls meist ganz andere Problemstellungen als Rangordnungsprobleme, die dem Hund emotional zusetzen und ihn quasi dazu zwingen, zu einem letzten verzweifelten Mittel zu greifen: Knurren, Schnappen oder Beißen. Denn meist reagieren Hunde auf diese Weise abwehrend auf Angst, Unsicherheit oder Stress. Eine verständliche Antwort, wenn der Hundehalter plötzlich versucht, die empfindliche Hundeschnauze in eine Urinlacke zu drücken! Und Aggressionen lassen sich nur dann nachhaltig aus der Welt schaffen, wenn man den wahren Grund für die Angst der Fellnase findet.
Weil Hunde ganz anders denken als wir Menschen, nicht sprechen können oder eine unbekannte Vorgeschichte haben, kann dieser Prozess lang und frustrierend sein. Es setzt logische und sorgfältige Detektivarbeit voraus, um den wahren Grund hinter dem unerwünschten Verhalten zu finden. Da scheint es auf den ersten Blick einfacher, mit Gegengewalt zu reagieren – doch so beginnt man nur eine Eskalation in eine Gewaltspirale, die zu immer mehr Angst und damit zu immer mehr Aggression führt.

Angst als missverstandene Dominanz
Ebenso missverstanden werden Hunde, die sich auf der Hundewiese nicht von ihrer besten Seite zeigen. Auch hier wird gerne von „dominanten“ Hunden gesprochen, wenn eine Fellnase niemanden an sich heranlässt, Ressourcen verteidigt oder regelrecht Jagd auf Artgenossen macht. „Der spielt sich nur auf!“ oder „Der will halt immer der Stärkste sein…“ bekommt man dann zu hören. Fälschlicherweise identifizieren wir Menschen gerne genau solche Hunde als dominant, die alles andere sind. Denn Unruhestifter, die mit jedem Hund anecken und bei der kleinsten Provokation zubeißen, sind keineswegs dominant – sondern meist von Angst und Unsicherheit geprägt. Sie kennen ihren Platz im größeren Sozialgefüge nicht oder haben niemals gelernt, diesen durch positive Interaktionen und ausgeglichenes Geben und Nehmen zu finden. Hier hilft nur vorsichtiges Sozialisieren mit charakterstarken Hunden oder Einzelstunden beim Hundetrainer des Vertrauens.
Denn in der Tierwelt drückt sich innerartliche Dominanz vielmehr als Souveränität, Ausgeglichenheit und ruhiges Auftreten aus. Ein sozial gefestigter Hund lässt sich auch einmal von einem anderen etwas wegnehmen, ohne ständig auf sein Vorrecht zu pochen. Statt ihre Artgenossen immerzu mit Kraftakten zu unterwerfen, sind sie vielmehr dafür zuständig, Streitereien zu schlichten und Gewalt zu vermeiden. Wirklich dominante Hunde führen das Rudel mit gutem Beispiel an und sind bereitwillig für sozialen Aktionen wie Spiel oder freundlichem Beschnüffeln zu haben.

Fazit
Es ist bitter, dass eine veraltete Theorie noch immer so fest ins Hundewesen verankert ist. Besonders, weil sogar der Urheber der ursprünglichen Erkenntnisse seinen Fehler schnell erkannt hat. Noch bitterer ist jedoch, wenn Hunde durch Erziehungsfehler und Unwissen in eine unglückliche Verteidigungsrolle gedrängt werden. Wenn der Hund beispielsweise den Ball nicht mehr hergibt, ihn vielleicht sogar mit den Zähnen verteidigt, kann die Ursache darin liegen, dass man ihm aus Unverständnis jedes Spielzeug wegnimmt. Schließlich soll er gemäß der Dominanztheorie nicht nach einer Rangerhöhung streben! Vielleicht war sein Mensch dabei auch noch grob und laut – vermeintlich dominant – damit kein Zweifel darüber besteht, wer das Sagen hat. Dabei sollten wir es so machen, wie es uns die Tierwelt vorlebt: Ausgeglichenheit, Ruhe und Gemeinsamkeit ebnen den Weg zu gelungenen Beziehungen!
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