Verhaltensbiologie: Wie eine Kastration Hunde verändert

by StefanC
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Dass eine Kastration Hunde bzw. ihren Hormonhaushalt verändert, ist bekannt. Welche Auswirkungen wissenschaftlich belegt sind, haben uns die erfahrenen Verhaltensbiologen Carina Kolkmeyer und Udo Gansloßer im Interview verraten.

Kein Frauchen und kein Herrchen kommen im Laufe eines Hundelebens um dieses Thema umhin. Die Entscheidung ist meist eine schwierige – und wird leider zu oft zu schnell getroffen. Mit oft ungeahnten Auswirkungen. Udo Gansloßer und Carina Kolkmeyer sind erfahrene Verhaltensbiologen und zeigen Sichtweisen auf an die viele Hundehalter gar nie gedacht haben. In dem Buch Kastration und Verhalten beim Hund von Udo Gansloßer und Sophie Strodtbeck wird sich dem Thema noch intensiver gewidmet.

Weitere spannende und lehrreiche Bücher, die alle verschiedenen Facetten der Kastration zeigt.Der Hund haut ab? Schnipp schnapp. Der eben noch so kuschelige Welpenrüde kommt in die Pubertät, wird aufmüpfig, fängt an „zurückzureden“ und zu pöbeln? Weg mit den Dingern. Die Hündin ist vor allem in Zeiten der Läufigkeit so zickig, dass es kaum auszuhalten ist? Ab unters Skalpell. Gründe für eine Kastration, sowohl beim Rüden als auch bei der Hündin gibt es viele, gut sind sie selten. Vor allem, wenn damit am Verhalten des Vierbeiners herumgeschnipselt werden soll. Oder?

Sehr oft wird Kastration als Lösung für so manche Verhaltensprobleme, die Hunde an den Tag legen, herangezogen. Kann eine Kastration wirklich Verhaltensprobleme oder – auffälligkeiten lösen? Und wenn ja, welche?

Carina Kolkmeyer und Udo Gansloßer: Es ist ein Irrglaube, dass sich durch eine Kastration sämtliche Verhaltensproblematiken lösen lassen. Eine Kastration beeinflusst nur das Verhalten, das direkt oder indirekt mit den Sexualhormonen in Verbindung steht. Aber natürlich ist die Versuchung immer groß, das Verhalten des Hundes auf einfachem Wege – schnipp schnapp – zu verändern. Die Realität zeigt jedoch immer wieder, dass sich viele Verhaltensprobleme eben nicht durchs Wegschneiden lösen lassen.

Positiv beeinflussen lässt sich beispielsweise nur die echte Statusaggression. Hier ist je nach Rassezugehörigkeit eine Verbesserung möglich, wenn das Verhalten nicht zusätzlich serotoninabhängig und schon im Gehirn abgespeichert ist.

Ebenso ließe sich hypersexuelles Verhalten abschaffen, aber wirklich nur dann, wenn es sich um echtes hypersexuelles Verhalten mit allen dazugehörigen Verhaltenselementen handelt. Die Hypersexualität kann allerdings neben dem Testosteron auch neurobiologisch betrachtet andere Ursachen haben. Es kann sich hierbei auch um einen Zusammenhang mit dem Noradrenalin handeln, welches nämlich die Ausschüttung der Androgene steigern kann. Ebenso kann auch das Dopaminsystem an der Auslösung sexueller Aktivitäten beteiligt sein.

Kann es sein, dass manche (unerwünschte) Verhaltensweisen durch eine Kastration sogar noch verschlimmert werden? Wenn ja, warum?

Zu der oft aufgeführten Aggression beim Hund ist zu sagen, dass gerade diese oft mit anderen Hormonen im Zusammenhang steht. Beispielsweise rührt die häufig vorkommende Angstaggression aus einem ganz anderen Hormonsystem, dem Stresshormonsystem. Hier ist das Stresshormon Cortisol von großer Bedeutung. Dieses Hormon wiederum fungiert als Gegenspieler der Sexualhormone (Testosteron, Östrogen, Progesteron).

Durch eine Kastration kommt es zu einem Produktionsstopp der Sexualhormone. Dementsprechend fallen die wichtigen Gegenspieler des Stresshormons Cortisol weg, d.h. die stressdämpfende Wirkung entfällt. Ein ängstlicher oder angstaggressiver Hund sollte daher keinesfalls kastriert werden.

Insbesondere bei Hündinnen kann es zu einer Verschlimmerung oder dem Auftreten von (Ressourcen-) Aggression nach einer Kastration kommen.

Die Ursache dafür findet sich in dem Zusammenspiel von Östrogen und Vasopressin sowie Oxytocin. Letzteres ist vor allem für eine positive, soziale Bindung zu einem Artgenossen wichtig. Das Vasopressin spielt beim Partnerschutz und in der Eifersuchtsreaktion eine Rolle.

Damit eine Bindung jedoch erst entstehen kann, muss vor der Oxytocinbildung als Vorstufe das Vasopressin produziert werden. Dementsprechend gehört – allgemein formuliert – zu jeder Bindung auch ein gewisser Grad an Eifersucht. Folglich können auch Partnerschutz und eifersüchtiges Verhalten durch eine Kastration nicht beseitigt werden.

Weiterhin reguliert das Sexualhormon Östrogen wiederum die Oxytocin-Aktivität insofern, dass die Aktivität der Stressachse vom zirkulierenden Östradiol und von dem Östrogen- und Progesteronspiegel abhängt. Insgesamt reagiert das Stresssystem weniger sensitiv auf Stress, wenn genügend Östradiol und Östrogen vorhanden ist. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Tier ohne Östrogenproduktion folglich gestresster ist bzw. sensibler auf Stress reagiert.

Wann ist aus verhaltensbiologischer Sicht eine Kastration sinnvoll und wann nicht? Welche Unterschiede gibt es hier zwischen Rüden und Hündinnen?

Aus verhaltensbiologischer Sicht ist eine Kastration nur dann sinnvoll, wenn der Hund durch seine Sexualhormone insofern „leidet“, dass das Tierwohl gefährdet ist. Die oben aufgeführte Hypersexualität kann so einen Fall darstellen. Aber hier ist Vorsicht geboten! Bitte niemals einen Hund leichtfertig kastrieren, der beispielsweise häufig das Verhaltensmuster „Aufreiten“ zeigt. Dieses Verhalten ist viel komplexer und hat nicht immer etwas mit sexuellem Verhalten zu tun. Es kann auch eine Art Puffer für Stress sein, d.h. der Hund kann sich durch diese Übersprunghandlung selbst beruhigen bzw. wieder herunterbringen. In so einem Fall wäre eine Kastration kontraproduktiv und würde dieses Verhalten nur verschlimmern. Nicht selten zeigen demnach viele Hunde nach einer Kastration immer noch das Aufreiten o. Ä. Dies gilt übrigens für beide Geschlechter. Auch Hündinnen, egal ob kastriert oder intakt, zeigen mitunter das Aufreiten an Gegenständen oder ggf. sogar an Menschen.

Nur dann, wenn z. B. der Rüde durch sein hypersexuelles Verhalten wirklich leidet, ist eine Kastration sinnvoll. Empfehlenswert sind hier definitiv der Rat eines Experten, der das Verhalten des Hundes beurteilen kann, und anschließend ein Probelauf mit dem Kastrationschip. Dadurch lässt sich das Verhalten nach einer Kastration einschätzen, mit dem großen Vorteil, reversibel zu sein, d. h. die Sexualhormonproduktion würde nach Ablauf oder Entfernung des Chips wieder starten.

Bei der Aggressionskontrolle von Hündinnen ist v. a. zu beachten, dass es nur in bestimmten Fällen, in denen aggressives Verhalten während der Läufigkeit gezeigt wird, wirksam ist. Wohingegen sich ganzjährig gezeigtes, aggressives Verhalten durch eine Kastration sogar zum Negativen verändern kann.

Hündinnen werden auch oft aufgrund einer Scheinschwangerschaft und Scheinmutterschaft kastriert, da diese beiden Phasen nicht selten als „Fehlstörungen“ missinterpretiert werden und davon ausgegangen wird, dass die Hündin per se in dieser Zeit leiden würde.

Hormonell betrachtet werden alle weiblichen Vertreter der Hundeartigen (z.B. Fuchs, Wolf, Haushund) nach jeder Läufigkeit scheinschwanger. Die Ursache dafür bilden die Gelbkörper, welche als leere Follikel im Eierstock so lange aktiv bleiben, bis eine echte Trächtigkeit vorüber wäre.

Sie produzieren demnach weiterhin Progesteron und durch dieses Schwangerschaftshormon kommt es zur Scheinträchtigkeit der Hündin. Durch die damit verbundenen, veränderten Stoffwechselaktivitäten erscheint die Hündin anhänglicher und mehr auf positiven sozialen Kontakt bedacht. Zur Scheinmutterschaft kommt es etwa zwei Monate nach der Standhitze. Gesteuert wird diese Phase insbesondere durch das Prolaktin, das Elternhormon.

Biologisch betrachtet sind diese beiden Phasen keinesfalls als Störungen o.ä. zu sehen, sondern gehören natürlich zum Sexualzyklus dazu und bereiten der Hündin (im Normalfall) kein Leiden.

Gerade wenn Rüden (oder auch Hündinnen) zum Beispiel eher rauflustig sind, versuchen Hundebesitzer, -besitzerinnen dieses Problem mit einer Kastration zu lösen. Welche Folgen kann hier eine Kastration auf das Verhalten der Hunde haben?

Wirklich rauflustige Vierbeiner sind eher selten bis gar nicht durch die Sexualhormone gesteuert. Unsere bisherigen Studienergebnisse zeigen, dass Aggressionen, insbesondere die rüpelhaften oder rauflustigen Formen, von deutlich mehr kastrierten als nicht-kastrierten Hunden gezeigt werden. Eine Kastration kann hier demnach keine Abhilfe schaffen, da hier nicht die Sexualhormone, sondern vielmehr andere Hormone beteiligt sind. Beispielsweise wird gerade beim Raufen während eines Spiels eher das Dopamin (Transmitter bzgl. Sucht) oder das Serotonin (Transmitter bzgl. Belohnung) ausgeschüttet. Diese würden nach einer Kastration weitestgehend bestehen bleiben.

Der bereits o.g. Zusammenhang der Sexualhormone mit dem Stresshormon Cortisol ist auch hier von Bedeutung. Oft bleibt die wahre Angst oder Furcht beim Hund unentdeckt und fälschlicherweise wird dann die Angstaggression als reine „Aggression“ abgetan. Eine Kastration hätte hier verheerende Folgen, da dem Hündchen durch die Wegnahme der Sexualhormone der letzte Puffer für den Stress genommen wird.

Eine andere Aggressionsart, die auch oft in Hundegruppen vorkommt, ist die Aggression aus Eifersucht. So etwas kann ein Partnerschutzverhalten sein, bei der entweder der/die eigene Besitzer*in oder bester Spielkamerad in der Gruppe usw. verteidigt wird. Verantwortlich für dieses Verhalten ist das Vasopressin. Eine Kastration wird auch hier folglich keine Verbesserung schaffen.

Ist eine Kastration nicht immer ein Eingriff in die Natur des Hundes oder gibt es aus verhaltensbiologischer Sicht auch gute Gründe, die dafür sprechen?

Eine Kastration ist und bleibt ein chirurgischer Eingriff, bei dem wichtige Organe entfernt werden. Es ersetzt niemals eine angemessene Erziehung. Statt Skalpell sind Bindung, Vertrauen und ein sicherer Hafen immer vorzuziehen. Die Sexualhormone erfüllen im Körper viele wichtige Funktionen und alle genauen Zusammenhänge sind bis heute noch nicht entschlüsselt. Am besten lässt sich das ganze Hormonsystem wie ein Zahnrad beschreiben. Irgendwie, entweder direkt oder durch Umwege, stehen alle Räder (Hormone) miteinander in Verbindung. Wird auch nur an einem Rädchen gedreht, ändert sich das gesamte System.

Wir Menschen wissen wohl am besten, wie sehr die Hormone unser Verhalten beeinflussen. Allein der Zyklus der Frau ist ein gutes Beispiel dafür (Stichwort PMS, Wechseljahre etc.). Beim Hund sieht es nicht viel anders aus. Nur hat der beste Freund des Menschen hier leider kein Mitspracherecht. Es lässt sich also nur erahnen, wie sich ein Hund nach einer Kastration fühlt.

„Gute“ Gründe gibt es wohl nie für etwas, das von Natur aus da ist und jetzt künstlich entfernt werden soll. Aber die bereits erwähnten Beispiele der echten Hypersexualität und ggf. Statusaggression können Ausnahmen darstellen, die eine verhaltensbedingte Kastration rechtfertigen.

Bei der Statusaggression hilft jedoch auch eine Kastration in den meiste Fällen nichts, denn es gibt mittlerweile Befunde dazu, dass weder eine Kastration noch eine Testosteronverabreichung etwas an der Dominanzhierarchie bei Hundeartigen verändern.
Vielmehr sind die Serotoninschwankungen verantwortlich für die Statusaggression und diese entstehen oft durch genetische/medizinische Ursachen oder durch mangelnde Sozialisation oder einem Mangel an Serotonin(-Rezeptoren).

Gibt es aus verhaltensbiologischer Sicht generell Vorteile bzw. Nachteile einer Kastration beim Hund, und wenn ja, welche?

Nachteile leider viele, Vorteile hingegen in manchen Fällen auch.
Vorteilhaft kann eine Kastration, wie gesagt, nur dann sein, wenn der Hund durch seine Sexualhormone in seinem Verhalten so beeinflusst wird, dass ein tiergerechtes Leben nicht mehr möglich ist.

Nachteilhaft ist eine Kastration v. a. dann, wenn sie unbedacht und leichtfertig durchgeführt wird, ohne die Konsequenzen zu beachten. Es gibt viele Arten von Aggression und die meisten sind durch eine Kastration nicht abzuschaffen oder verschlimmern sich sogar oft noch dadurch.

Die Populationskontrolle stellt ebenso keinen Vorteil dar. Das deutsche Tierschutzgesetz inkl. der entsprechenden Kommentare verbietet das Entfernen eines gesunden Organs. Auch zur Populationskontrolle darf es beim Hund nicht eingesetzt werden, da dieser in Deutschland nicht als Streuner gilt, so heißt es in den juristischen Kommentaren zum §6. Hier sollte lieber auf die Alternative, die Sterilisation, oder eine Übergangslösung (Kastrationschip) für Tierheime z.B. zurückgegriffen werden.

Neben den verhaltensbiologischen Nachteilen kann eine Kastration auch die Entstehung bestimmter Tumoren begünstigen, wie die Entwicklung von Knochentumoren bei Rottweilern, Lymphkrebs bei Golden Retrievern und Tumoren im Bereich der Milz bei Magyar Vizslas.

Wie stark und inwiefern kann sich eine Kastration auf das Sozialverhalten eines Hundes auswirken?

Kolkmeyer & Gansloßer: Wenn wir uns vor Augen führen, wie stark die Sexualhormone die Psyche und die Physis des Hundes beeinflussen, dann wird uns klar, wie sich ein Produktionsstopp dergleichen auswirkt.

Unsicherheit, Stress, Panik, Aggression und ggf. verminderte Sozialkompetenz sind nur einige Beispiele der Ergebnisse, die wir unter anderem in unseren Verhaltensstudien erlangt haben. Die kastrierten Hunde – Rüden und Hündinnen – schienen unsicherer im Umgang mit Artgenossen zu sein und umgekehrt genauso. Auch die intakten Hunde nahmen die Kastrierten anders wahr. Hier mag vor allem die Veränderung im Hundegeruch eine Rolle spielen, denn auch dies ist eine Nebenwirkung der Kastration. Und da Hunde nun mal viel schnüffeln und darüber auch sehr viel kommunizieren, wird auf diesem Wege ebenso das Sozialverhalten beeinträchtigt.

Es kann sogar soweit führen, dass die kastrierten Rüden vermehrt sexuelle Belästigungen seitens der nicht-kastrierten Rüden erfahren. Und dass dies kein Kastrat äußerst prickelnd findet und es zu einem Unwohlsein und Stress führt, sollte allen klar sein.

Eine Kastration ist immer ein erheblicher Eingriff in den hundlichen Hormonhaushalt und dieser kann dadurch aus dem Gleichgewicht geraten. Derartige Erschütterungen sind nicht mehr rückgängig zu machen. Folglich sollte eine Kastration nie aus dem Bauch heraus entschieden und alle möglichen Nebenwirkungen bedacht werden.

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